Hamburg. Manchmal schreibt das Leben Geschichten, die unglaubwürdiger wirken als jeder Roman. Was als alltägliches Interview begann, führte für meinen Gesprächspartner und mich zu einer Enthüllung, die uns beide sprachlos machte – und unser Verständnis von Zufall und Schicksal für immer veränderte.
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Alles nahm seinen Anfang mit einer E-Mail. Mein Auftrag: ein Porträt über einen jungen Architekten, dessen nachhaltige Stadtvisionen derzeit für Aufsehen sorgen. Nennen wir ihn Markus Keller. Ein gewöhnlicher Vormittag in einem Café an der Alster: Aufnahmegerät griffbereit, Notizblock aufgeschlagen, die Fragen vorbereitet. Herr Keller erschien pünktlich – ein sympathischer, reflektierter Mann Ende dreißig.
Das Gespräch verlief mühelos. Wir diskutierten über seine Ideen, über Verantwortung gegenüber kommenden Generationen und schließlich, eher am Rande, über seine familiären Wurzeln. „Familie bedeutet mir viel“, erzählte er. „Auch wenn sie weit verstreut ist. Mein Großvater mütterlicherseits kam nach dem Krieg aus Schlesien nach Westdeutschland. Er sprach oft davon, dass ein Teil der Familie damals verloren ging.“
Ich notierte mir den Hinweis. Wenige Minuten später drehte sich die Unterhaltung zu meiner Person. „Und bei Ihnen?“, fragte Herr Keller. „Warum haben Sie sich als Journalistin gerade auf Architektur spezialisiert?“
Ich lächelte. „Das hat wohl mit meiner Herkunft zu tun. Ich stamme selbst aus einer Handwerkerfamilie. Mein Urgroßvater war Zimmerermeister in Ostpreußen. Vielleicht liegt die Begeisterung fürs Bauen einfach im Blut.“
Plötzlich musterte mich Markus Keller sehr aufmerksam. Eine Pause entstand. „Ostpreußen? Interessant. Mein Urgroßvater war ebenfalls Zimmermann. Auf der Flucht verlor er seine Familie. Eine Tochter und deren Sohn – meinen Großonkel – hat er nie wiedergesehen.“
Ein kaltes Kribbeln lief mir den Rücken hinunter. Reiner Zufall, redete ich mir ein.
„Meine Urgroßmutter erzählte ihr Leben lang von ihrem verschollenen Bruder“, sagte ich fast automatisch weiter. „Er hieß Friedrich.“
Die Farbe wich aus Kellers Gesicht. Er stellte seine Tasse ab, die in der Stille laut klirrte. „Friedrich…“, flüsterte er. „So hieß mein Urgroßvater.“
Von diesem Moment an reihten sich Erinnerungen und Erzählfragmente aneinander, die plötzlich wie Puzzleteile zusammenpassten. Ortsnamen, Berufe, Fluchtrouten – alles stimmte überein. Uns wurde klar: Wir waren die Urenkel zweier Brüder. Die Geschichte hatte unsere Familie auseinandergerissen, und der Zufall – oder etwas Größeres – brachte uns nun im Rahmen eines Interviews wieder zusammen.
Die Atmosphäre hatte sich verändert. Aus einem journalistischen Termin wurde ein merkwürdiges Familientreffen. Wir bestellten noch ein Stück Kuchen, das Aufnahmegerät blieb ausgeschaltet. Es ging nicht mehr um Architektur, sondern um uns.
Am Ende des Nachmittags verabschiedeten wir uns mit dem Versprechen, uns bald wiederzusehen – diesmal mit unseren Familien. Aus einer geplanten Stunde war ein vierstündiges Gespräch über Herkunft und Erinnerung geworden.
Diese Begegnung hat mir eine neue Cousine geschenkt und Markus einen weiteren Zweig in seinem Stammbaum. Sie hat mir aber auch gezeigt: Jeder trägt Geschichten in sich, die mit denen anderer verflochten sind. Die größten Entdeckungen warten manchmal nicht in der Ferne, sondern im Café um die Ecke – verborgen in den Erinnerungen unseres Gegenübers.
Das Leben schreibt die eindrucksvollsten Geschichten. Man muss nur zuhören.